Großmutter Weide und die 18
Bewegungen
Großmutter Liu ist eine alte Weide.
Sie steht am Rande einer Blumenwiese zwischen dem Weg, der vom kleinen Dorf in
die weit entfernte Stadt führt, und dem Fluss. Sie ist sehr alt und sehr groß.
Weil sie eine Trauerweide ist, streifen ihre Zweige sogar den Boden. Manche
davon reichen bis auf den Weg, andere wiederum streicheln das vorbeifließende
Wasser.
Großmutter Liu steht nicht nur
einfach so zwischen Weg und Fluss herum und träumt den ganzen Tag vor sich hin.
Das Leben ist alles andere als langweilig, denn sie hat viel zu tun. Den ganzen
Tag und manchmal auch noch in der Nacht gibt es etwas zu ordnen, zu helfen oder
auch nur zu beobachten.
Jeden Morgen begrüßt sie zuerst
einmal den neuen Tag. Mit ihren langen und weichen Zweigen winkt sie dem
aufkommenden Morgenrot. Sie beginnt ihr Tagwerk, wie immer, mit dem „Chi wecken“.
Als sich Großmutter Liu später umschaut,
sieht sie hinter der Biegung des Flusses den Fischer Thanh seine alltägliche Morgenübung
machen. Thanh ist mittlerweile in die Jahre gekommen und die Weide ist froh,
wenn sie ihm beim „die Brust öffnen und
weitherzig sein“ zusehen kann und weiß, dass es ihm gut geht.
Weil es wieder einmal geregnet hat,
steht genau am Himmel über der Wiese ein großer Regenbogen. Das ist eine gute
Gelegenheit für ein wenig Spaß, denkt sich die Weide und beginnt „den Regenbogen (zu) schwingen“.
Und da sie so viel Freude an dem
Spiel mit dem Wetter hat, versucht Großmutter Liu gleich noch „die Wolken (zu) teilen“. Nach dem Regen
hätte sie gern noch einen richtig schönen Tag.
Bei dieser Arbeit wird sie
allerdings unterbrochen. Aus dem nahen Wald kommt eine Horde Affen angestürmt.
Sie klettern am Stamm herauf und lassen sich schnatternd im Geäst nieder.
Normalerweise freut sich die Weide über Besuch. Aber diese Gesellschaft ist ihr
doch zu laut. Alle schreien und kreischen durcheinander und hüpfen zudem noch
wie wild hin und her. Das wird ihr einfach zu viel. Sie nimmt die stärksten Zweige
zu Hilfe und beginnt die „Affen (zu)
vertreiben“.
Endlich ist Ruhe und sie will sich
wieder dem Wetter widmen. Inzwischen eilt aber der Fischer Thanh vorbei, der
sie höflich grüßt. Sie erwidert seine Morgenwünsche, indem sie ihre Äste leicht
im Wind wiegt, und schaut ihm nach. Thanh ist unterwegs zum nahen See um Fische
zu fangen. Wenn der Himmel schön klar ist, dann kann sie ihm beim „Rudern auf dem See“ sogar beobachten.
Weil der Fischer zu jedermann freundlich
ist und ein gutes Herz hat, hofft die Weide, dass er heute einen reichlichen
Fang heimbringen wird. Da sie außerdem glaubt, dass es sich bei schönem Wetter
viel besser arbeiten lässt, will sie ihm helfen und beginnt „die Sonne über den Horizont (zu) heben“.
Als Thanh dann am Abend nach Hause
geht, freut sie sich sehr, dass alle seine Körbe prall gefüllt sind. Die Last
ist schwer und so macht er bei Großmutter Liu eine Rast. Beide sind seit Jahren
gute Freunde und verstehen sich auch ohne Worte. So schweigen sie, während sie
gemeinsam eine Weile in „den Mond
schauen“.
Am nächsten Tag führt der Weg dann
aber ganz andere Leute an der Weide vorbei. In den frühen Morgenstunden wandern
zwei Gelehrte in Richtung Stadt. Sie streiten über ein wichtiges
philosophisches Problem und machen ernste Gesichter. Keiner will den Standpunkt
des anderen akzeptieren und nachgeben. Eifrig unterstreichen sie jeden Satz mit
einem „diagonalen Handkantenschlag“
und kommen sich dabei sehr wichtig vor. Großmutter Liu schüttelt darüber nur
den grünen Kopf. Weiß sie doch längst aus Erfahrung: Das Leben meistert man
lächelnd, oder überhaupt nicht.
Als die Streithähne verschwunden
sind, kann sich die Weide wieder einmal den angenehmen Dingen des Tages widmen.
Mit ihren Zweigen streichelt sie den Himmel und fegt ihn mit „Wolkenhände(n)“ blitzeblank.
Als diese Arbeit getan ist, bleibt
ihr ein wenig Zeit, um zu verschnaufen und zu träumen. Sie mag den Platz
zwischen Weg und Fluss. Aber manchmal würde sie auch gern ein bisschen reisen. Ihr
größter Wunsch ist es sich „zum Meer
(zu) neigen und (dort) zum Himmel schauen“.
Weil das aber nichts werden wird,
tröstet sie sich damit, dass sie einige Äste tief in das Wasser des Flusses
taucht um „die Welle (zu) schieben“.
Schließlich wird sich der kleine Fluss irgendwann einmal in das große Meer
ergießen.
Aber schön wäre es doch, träumt sie dabei.
Wenn man ein Vogel wäre... Dann bräuchte man nur „die Flügel öffnen“ und losfliegen. Bei dem Gedanken seufzt sie ein
wenig und dreht sich zur anderen Seite. Sie sieht den Weg, die Wiese und den
Wald dahinter. Sich „zum Meer neigen und
zum Himmel schauen“ ist ja nicht schlecht, aber dann müsste sie ihren
geliebten Platz am Flussufer verlassen. Das will sie dann doch nicht. Da beugt
sie sich lieber noch ein bisschen zum Wasser um es zu streicheln und macht sich
den Spaß, um die eine oder andere „Welle
(zu) schieben“.
Sie schaut danach auch noch nach den
Vögeln, die sich am Ufer versammelt haben. Die erzählen ihr oft Neuigkeiten und
bringen manchmal sogar Kunde vom weit entfernten Meer. Sie beobachtet liebevoll
ihre gefiederten Freunde: Wie sie sich satt trinken, sich erfrischen und dann „die Flügel öffnen“ um wieder weiter zu
ziehen. Fliegt nur, flüstert sie, ich bleibe hier und warte auf euch.
Inzwischen nähern sich auf dem Weg
zwei Reiter. Auch diese Menschen streiten, denkt Großmutter Weide verwundert
und lauscht. Die flinken Pferde tragen junge Burschen, die sich nicht einig
werden können, wer von ihnen mehr Chancen bei der hübschen Lian, der Tochter
des Fischers. hat. Jeder glaubt, dass sie ihn zum Manne nehmen wird. Sie
belassen es jedoch nicht nur bei zornigen Worten, sondern beginnen zu rangeln.
So sitzen sie auf ihren Pferdchen im “Reitersitz
und Fauststoß“ folgt auf Fauststoß. Die Weide schüttelt wieder das grüne
Haupt. Solche dummen Jungen denkt sie, die kleine Lotusblüte hat ihr Herz doch
längst jemanden anderes geschenkt.
Die schöne Lian liebt schon seit
vielen Monden den geschickten Long, einen fröhlichen Bootsbauer. Der ist immer
freundlich und sehr fleißig. Seine Boote sind zudem noch wunderschön und
gleiten so schnell durchs Wasser, das man meint, sie könnten „wie eine Wildgans fliegen.
Eine Weile ist es nun still, dann
hört Großmutter Liu das Getrappel eiliger Füße. Zwei Kinder kommen den Weg
entlang. Sie haben den Tag bei Freunden verbracht und laufen jetzt gemeinsam nach
Hause. Voller Freude erzählen sie von ihren Erlebnissen und zeigen sich dabei
ihr Lieblingsspielzeug. Der kleine Junge kann es nicht lassen und muss immer
wieder seinen „Flugreifen drehen“
und erfreut sich jauchzend an dessen Spiel. Das Mädchen ist etwas größer und
will eigentlich schon fast erwachsen sein. Aber das vergisst sie heute einfach
einmal und hat nichts weiter im Sinn als zu lachen und den „Ball (zu) prellen“.
Die Kinder sind längst aus der Sicht
der alten Weide verschwunden, als sich der Tag dem Ende zuneigt. Aber
Großmutter Liu hat das Gefühl, als ob die Freude, die die beiden kleinen
Menschlein verströmten, immer noch auf dem Weg liegt. Es ist fast so, als
könnte sie diese mit ihren Zweigen greifen und in sich aufnehmen. Warum nicht, sagt
sie und beginnt „das Chi in den Körper
zu füllen“.
Inzwischen ist es dunkel geworden. Was
für ein schöner und interessanter Tag, das heute doch wieder einmal war, denkt
sich die alte Weide. Dann schließt sie die Augen und kommt zur Ruhe.